Mystische Erfahrung (Eine Zusammenfassung von Kurt
Bangert)
Im Frühjahr des Jahres 1974 besuchte ich das Sivananda-Kloster in Monghyr
in Indien. Der Ashram liegt am Gangesufer und wurde damals von Swami Satjananda geleitet. Während der
sechs Wochen meines Aufenthaltes bekam ich eine intensive Einzelunterweisung, die schon morgens um sechs Uhr
mit Hatha-Yoga und Yoga-Nidra begann. Die Unrast des Abendlandes fiel von Tag zu Tag immer mehr von mir
ab, innere Ruhe kehrte ein und Stunden von gänzlich unbeschwertem Glücklichsein stellten sich nach den
Übungen ein.
Die Erfahrung eines starken Herzensfriedens hielt auch noch während der
24-stündigen Bahnrückfahrt nach Neu Delhi und danach auch noch im Hotel an. Dort, bequem auf dem Bett liegend
geschah es: Während der Übung des Yoga-Nidra (einer besonderen Tiefenentspannung) spürte ich, wie die Basis
der Wirbelsäule, beginnend mit dem Beckenboden, immer heißer wurde. Dieses Wärmegefühl wanderte scheinbar
innerhalb der Wirbelsäule aufwärts mit einem unbeschreiblich schönen Wonnegefühl. Dabei entstand im Kopf die
Erfahrung einer zunehmenden Seligkeit.
Diese führte aber nicht zur Bewusstlosigkeit, im Gegenteil, sie führte in
eine immer größer werdende Bewusstheit und zu einer geistigen Wachheit, ja, zu einer Über-Wachheit. Am Ende kam es
zu einer raum- und zeitlosen Erfahrung eines, wie ich es nenne, kosmischen Bewusstseins.
Die Erfahrung dort war:
Ich bin eins mit Allem, mit dem gesamten Kosmos, ich bin reines Sein.
Der Zustand dauerte vielleicht 20 oder 30 Minuten, es hätte auch eine
Ewigkeit vergangen sein können, es war ja ein Zustand der Zeitlosigkeit. Hier gab es kein „Ich-Gefühl“, keine
Ich-Erfahrung mehr.
Erst hinterher konnte ich diese Erfahrung mit Worten beschreiben. Zu meinem
Wohnort in Hamburg zurückgekehrt, wiederholte sich diese Erfahrung noch einmal in abgeschwächter Form.
Bereits wenige Tage nach meiner Rückkehr aus Indien begann ich in
Hamburg, Yoga-Kurse mit Hatha-Yoga und Tiefenentspannung zu geben.
Vier Jahre nach jenem Ereignis – es muss im Jahr 1978 gewesen sein –
erlebte ich, was auch von Hildegard von Bingen berichtet wird: eine innere Christus-Erfahrung; und das ereignete
sich so:
Vorwegschicken muss ich, dass ich keinerlei Beziehung zu oder Vorstellung
vom historischen Jesus hatte, auch nicht zur Kirche ging. Ich war zwar evangelisch getauft, aber seit der
Konfirmation nicht mehr in der Kirche und mit dem 18. Lebensjahr sogar aus der Kirche ausgetreten. Deswegen kam das
Folgende für mich völlig überraschend.
Ich befand mich im Sommer 1978 am Tegernsee und dort zurückgezogen von
aller Welt einsam in einem Haus
am Waldrand, wo ich täglich meditierte. Dort hatte ich für zwei Jahre ein
möbliertes Zimmer gemietet, um in der Natur und Einsamkeit als Einsiedler auf die innere, göttliche Lebenskraft
zu meditieren.
An einem Sommertag saß ich zurückgelehnt in einem Liegestuhl auf dem Balkon
mit Blick auf den wunderschönen Tegernsee und dachte an das Göttliche in der Natur. Das erste Mal seit
meiner Konfirmation oder meiner Schulzeit schlug ich eine beliebige Stelle im Neuen Testament auf. Es war der Beginn
des JohannesEvangeliums, und ich las dort:
„Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Es war in
der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, und die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in das Seine und die
Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh 1,9 f.) Dies verstand ich zunächst nicht, wollte aber unbedingt den Sinn erfassen,
weshalb ich in die Kontemplation ging – mit der absoluten Erwartung einer inneren Antwort. Plötzlich und
irgendwie überraschend kam eine immer stärker werdende Liebe auf mich zu, die sich bis ins Absolute steigerte und mein
ganzes Wesen in sich aufsog. Um diese Erfahrung annähernd wieder zu geben, kann ich nur ein Gleichnis berichten:
Man stelle sich einen vielleicht drei Monate alten Säugling vor, hilflos
und allein gelassen, der die nährende und liebende Mutter vermisst. Doch plötzlich ist sie da und nimmt den Säugling
in ihre Arme, in ihre Liebe auf. Für mich war auf einmal ein Gefühl von Erkennen, von Geborgenheit und von Liebe da,
wie wenn das kleine Kind die bisher vermisste Mutter nun erkennt und sich ihrer Nähe hingeben kann. Wenn das
Kind spürt, dass die Mutter sich über es beugt und es bei sich aufnimmt, ist sofort Geborgenheit und Liebe da.
So ähnlich begann auch meine Christuserfahrung, so dass ich keine Angst
verspürte. Stattdessen kam das Gefühl großer Geborgenheit und Liebe über mich, sog mich geradezu auf. Es war
zunächst das Gefühl einer personalen und im weiteren Verlauf auch einer absoluten, transpersonalen Liebe. Vom ersten Beginn an erwiderte ich diese Liebe, gab sie also wieder zurück
und erhielt diese Liebe innerhalb weniger Augenblicke gleichsam hundertfach oder tausendfach verstärkt
zurück, schließlich überschwemmte mich diese Liebe und nahm mein ganzes Wesen in sich auf.
So wie das vorher alleingelassene Kind wieder in Geborgenheit und Liebe von
der Mutter aufgenommen wird
und die Mutter als Mutter erkennt, so erkannte ich diese Liebe als den
Christus, ich wusste mich plötzlich als von Christus geliebt, dessen war ich mir gleich zu beginn, als der Prozess
begann, ganz sicher. Im Verlaufe dieses Prozesses nahm diese Liebe also mein ganzes Wesen in
sich auf, so dass mir jegliches Ich-
Bewusstsein entschwand. Auch hier war es so, dass ich für das Erlebte erst
später Worte fand, so dass ich es nur aus der Erinnerung wiedergeben kann. Danach deute ich das, was geschah so:
Ich hatte aufgehört, als individuelles Selbst zu existieren, ich war – nun in
der Erinnerung – aufgesogen, völlig
aufgegangen in der All-Liebe oder in der Christus-Liebe oder in dem
Christus. Es gab von diesem Augenblick an nur noch den Christus, der mit mir eins geworden war. Er war diese All-Liebe,
dieses Bewusstsein war Liebe, All-Liebe. Diese Erfahrung mag – im Nachhinein betrachtet – vielleicht 15 Minuten oder
länger gedauert haben; es war ja eine zeitlose Dimension.
Auf dem Höhepunkt dieser absoluten Liebes-Seligkeit erweiterte sich dieses
Christusbewusstsein langsam in ein noch höheres Bewusstsein, in ein All-Bewusstsein oder eine All-Erkenntnis;
die Liebe verringerte sich und wandelte sich zur Erkenntnis. Das Wesen dieses Bewusstseins zu beschreiben, dafür
fehlen mir alle Worte. Ich nenne es schlicht Gottesbewusstsein.
In den Tagen und Jahren nach diesen Erlebnissen war mir oft so, als sei die
Trennwand zwischen meinem
normalen Ichbewusstsein und meinen Unter- (oder Über-)Bewusstsein
durchlässig geworden war. Ich hatte das Gefühl, „hellsichtig“ geworden zu sein. Ich konnte meine feinsten
Gedankenregungen und viele physiologischen Körperreaktionen bewusster wahrnehmen. Mehr noch: Ich konnte mich besser in
andere Menschen hineinfühlen, ja sogar in sie „hineinsehen“ und erkennen, wie liebevoll, wie göttlich sich
diese Menschen anfühlten. Es war mir zuweilen auch vergönnt, Ursachen für seelische Störungen wahrzunehmen.
Heute deute ich das Erlebte so: Wir haben verschiedene „Schichten“ in uns:
wie wenn ein Bohrer immer tiefer ins Gestein bohrt (um beispielsweise Öl oder Gas zu finden). Zwar findet
man in unserer menschlichen „Tiefe“ kein Öl, dafür aber die Christus-Schicht, wie ich sie nenne, und noch tiefer die
Schicht des göttlichen Lebens und des Göttlichen Geistes. Diese Schichten sind in jedem Menschen verborgen und warten nur
darauf, entdeckt zu werden. Ich sehe vor allem zwei Bewusstseins-Schichten, ein Alltagsbewusstsein und ein weithin
verborgenes Unterbewusstsein, das man aber auch Überbewusstsein nennen könnte. Man könnte hier auch vom biologischen
und vom spirituellen Menschen sprechen.
Als biologischer Mensch mit einem normalen Alltagsbewusstsein und einem
Ichbewusstsein habe ich normalerweise keinen unmittelbaren Zugang zu meinem inneren spirituellen Kern. Gleichwohl
führe ich heute – nachdem ich meine spirituellen Erfahrungen gemacht habe – mein physisches Leben auf
eine göttliche Lebenskraft, eine göttliche Allmacht zurück, ohne die ich nicht sein könnte, nicht einen Augenblick,
ohne die ich keinen einzigen Atemzug tun könnte. Alles, was ich bin oder für das Meinige halte, bin ich durch diese
allumfassende göttliche Lebenskraft. Das weckt in mir eine große, unendliche Dankbarkeit.
Als spiritueller Mensch weiß ich mich heute verbunden mit dem
Christus-Gedanken oder dem inneren Christus, dessen Frohbotschaft und Lehre ich mir zu eigen zu machen versuche, dem ich
gerecht werden will und dem zu folgen mein fester Wille und meine größte Freude ist. (Dabei ist für mich
Albert Schweitzer ein wichtiges Vorbild, in dem ich jene Gottes- und Christuskraft erkenne.) Ich rede mit diesem
inneren Christus wie mit einem geistigen Führer, der mich an die Hand nimmt. Aber es ist nicht so, dass es dabei um
eine duale Beziehung geht (ich hier und Christus dort), sondern eher so, dass wir unseren Weg gemeinsam gehen,
nicht als Dualität, sondern als Einheit. Es ist, als wenn ich von Ihm, dem inneren Christus, gelebt werde – wenn ich
mir nur erlaube, gelassen zu sein und mich von ihm leben zu lassen.
Im Normalfall kommen wir nicht an unsere unbewusste Schicht heran, sie ist
wie „zugedeckt“ durch unser
Alltagsbewusstsein beziehungsweise durch das, was wir für unser „Ich“
halten. Erst, wenn wir im Kopf stille werden, finden wir einen Zugang. Diese meist verborgene Schicht kann eigentlich nur
in der mystischen Erfahrung (oder in einem Nahtoderlebnis) erreicht werden. Deshalb glaube ich, dass auch Jesus
selbst solche Erfahrungen gemacht hat.
Ich verstehe diese innere Bewusstseinsschicht heute als Allbewusstsein oder
als das Leben selbst, als die Gotteskraft. Das führt dazu, dass ich nicht mehr darauf warten muss, „bis Christus
wiederkommt“, weil er nämlich schon da ist. Er ist für mich gegenwärtig geworden. Ich habe ihn selbst erlebt.
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Hartmut Neumann (geb. 1941) war VHS-Dozent für Meditation und Yoga, zuvor
Leiter einer Yoga-Schule. Er ist Autor des Buches „Seid ihr noch zu retten?“. Er lebt in Wesseling.